Ich hab’ mich aus dem Leben geschossen

16.11.2020 in
Aktuelles
von
Suchthilfe MV

„Ich hab noch einiges vor“, sagt Tim. „Ein ganz normales Leben, mit einem Job und Familie“, zählt der 36-Jährige auf. Doch so normal wie sich das anhört, ist das für Tim nicht. Denn bisher war sein Leben vor allem von einer Sache geprägt: seiner Drogensucht. Doch die soll der Vergangenheit angehören. Tim wagt einen Neuanfang.

Im Erzgebirge aufgewachsen, war die Situation zu Hause mit einem alkoholkranken Vater schwierig. Das erste Mal gekifft hat Tim, als er 13 Jahre alt war. Und dann, mit 14, kam Crystal Meth. Eine synthetisch hergestellte Droge, die eine aufputschende Wirkung hat und besonders gefährlich ist, weil man von ihr sehr schnell abhängig wird. „Das hat eingeschlagen wie ’ne Bombe“, schaut Tim zurück. Anfangs habe er nur am Wochenende konsumiert, doch mit 15 Jahren brauchte er das Crystal Meth mehrmals in der Woche. „Wenn man das Zeug nimmt, dann wird man leistungsfähiger, euphorischer und kann ganze Nächte durchmachen“, erklärt er. Einmal habe er es auf zwölf Tage und Nächte gebracht... Der Drogenkonsum habe sich auf alles ausgewirkt, auf die Schule und die Leistungen und auch die ganze Persönlichkeit. Doch gerade den letzten Punkt konnte er sich viele Jahre nicht eingestehen. Und die Eltern? Haben die nichts mitbekommen? „Die haben das komplett ausgeblendet“, sagt Tim. Seine große Schwester war es, die, als sie merkte, was mit ihrem kleinen Bruder los war, ihm „erst einmal eine geklatscht“ hat und dann versuchte, im Freundeskreis dafür zu sorgen, dass er keine Drogen mehr bekam. „Aber ich bin trotzdem an das Zeug gekommen.“ Um das zu finanzieren, fing Tim an zu dealen.

Mit der Schule war für ihn nach der 9. KlasHaus Samaritas Stralsund: Ich hab’ mich aus dem Leben geschossense Schluss. Heute sagt Tim: „Ich hätte mehr reißen können.“ Nach einem Berufsvorbereitungsjahr begann er eine überbetriebliche Ausbildung zum Koch. Doch auch da war nach dem zweiten Lehrjahr Schluss. Auch um solche Erlebnisse auszublenden, konsumierte er immer weiter und immer mehr. Bis zu dem Tag, als ihn seine Freundin verließ. „Da war ich 21, und die Trennung hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Aber das hatte zur Folge, dass ich etwa ein Jahr keine Drogen mehr genommen habe.“ Und dann war das Zeug plötzlich doch wieder da. „Meine schlimmste Zeit hatte ich zwischen 24 und 28 Jahren, da habe ich richtig Gas gegeben. Durch das Dealen hatte ich immer Geld in der Tasche, Crystal Meth gehörte jeden Tag dazu. Alles ging drunter und drüber, ich hab mich aus dem Leben geschossen“, erinnert er sich. Doch genau das Dealen war es auch, was ihm zusetzte. „Ich hatte Schiss, im Knast zu landen, und hab mir immer eingeredet, dass ich schlauer bin als die anderen, aber das war natürlich Wunschdenken...“.

Ein erstes Umdenken, dass das vielleicht doch nicht alles so toll ist, setzte wieder seine Schwester bei Tim in Gang, denn sie drohte ihm mit einer Zwangseinweisung. „Erst dachte ich, was stimmt mit der denn nicht? Dabei war ich es, bei dem etwas nicht stimmte. Ich dachte, ich laufe geradeaus, aber meine Schwester hat das anders gesehen.“ Sein ganzes Wesen hatte sich verändert, „ich war nicht mehr der gleiche Mensch.“ Denn wenn man zu euphorisch wird, dann fällt man auch sehr tief. „Ich hatte depressive Phasen, aber ich wusste ja auch, wie man das ändert. Durch noch mehr Drogen.“ Doch er wollte nicht so enden wie einige seiner Freunde, die sich das Leben genommen haben oder durch den Konsum „auf ihren
Psychosen backen geblieben sind.“

2012 beschritt Tim dann den Weg, um clean zu werden. Um es vorwegzunehmen: Zahlreiche Rückfälle gehörten dazu. Entgiften, einen Platz in einer Einrichtung finden, die Therapie, die Nachsorge... Und das Ganze in mehreren Anläufen. „An einer Therapie teilzunehmen ist alles andere als ein Ponyhof“, umschreibt er die Anstrengungen. „Die Gespräche mit den Therapeuten, das Arbeiten an einem selbst, das Nachdenken darüber, was gewesen ist und was kommen kann, das Zusammenleben mit vielen verschiedenen Charakteren. All das ist nicht leicht.“ Im Jahr 2019 dann ein erneuter Versuch, der Sucht zu entkommen. Gemeinsam mit Hund Boomer ging es zur Therapie nach Tessin. Diese Einrichtung kannte Tim bereits und hat dort, wie er sagt, viel gelernt. Das Wichtigste für ihn war jedoch, dass er seinen Hund bei sich haben konnte. Das Tier ist nicht nur dabei hilfreich, Struktur in den Tag zu bringen, sondern ist einfach auch ein wichtiger Begleiter im Alltag.

Diesmal soll nun alles klappen. Nach der Nachsorge ging es für Tim und Boomer nach Stralsund in das Haus „Samaritas“ der Evangelischen Suchtkrankenhilfe Mecklenburg-Vorpommern. „Hier habe ich viel Unterstützung für den Neuanfang bekommen.“ Denn nichts weniger als das soll es sein, was Tim in Stralsund schaffen möchte. „Ich fühle mich wohl in der Stadt, weiß, worauf ich achten muss, und auch, dass nicht immer gleich alles klappt. Aber ich habe auch gelernt, Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ Eine eigene kleine Wohnung ist für ihn der Anfang, nun ist er auf der Suche nach einem Job. „Am liebsten würde ich wieder in der Küche arbeiten“, hofft er auf eine passende Stelle. Was die Zukunft bringt, ist ungewiss, nur eines ist klar: „Ich will nicht mehr dahin zurück, wo ich war. Ich will clean bleiben.“

 

*Name von der Redaktion geändert

Quelle: OSTSEE-ZEITUNG / Miriam Weber (04.11.2020)
Foto. Miriam Weber